4200 Euro für ein Menschenleben?

Der Lkw-Fahrer, der im Januar 2023 in der Hafencity beim Rechtsabbiegen in die Osakaallee eine 34-jährige Radfahrerin tötete, wurde mit einer „Geldstrafe auf Bewährung“ verwarnt. Dieses Urteil des Amtsgerichts stößt bei Angehörigen und beim Fahrradclub auf Unverständnis, Empörung und Wut.

Dem damals 58 Jahre alten Lkw-Fahrer wurde vorgeworfen, beim Abbiegen nicht die geforderte Schrittgeschwindigkeit eingehalten zu haben, sondern mit etwa 18 km/h gefahren zu sein. Der Unfall hätte laut der Gerichtssachverständigen aber bei vorschriftsmäßiger Geschwindigkeit vermieden werden können, der Lkw hatte zwar einen Abbiegeassistenten, der aber reagierte nicht, der Lkw-Fahrer guckte nicht und „übersah“ die Radfahrerin, die eine gelbe Warnweste trug. Das Gericht sah seine Schuld als erwiesen an, sprach aber zugleich von einer „Verkettung unglücklicher Umstände“ und einer „Tragödie“, weshalb es die „mildeste“ Strafe verhängte, die möglich war: eine Geldstrafe in Höhe von 4200 Euro, zur Bewährung auf zwei Jahre ausgesetzt. Die Angehörigen der getöteten Radfahrerin, die einen damals dreijährigen Sohn hinterlässt, haben angekündigt, Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen.

„Dieser Unfall war keine Tragödie, sondern absolut vermeidbar“, sagt Cajus Pruin vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) in Hamburg. „Die getötete Radfahrerin war auch keine ,gescheiterte Heldin‘, die den bewusst in Kauf genommenen Kampf mit dem Lkw verloren hat – sie wurde das Opfer von Versagen unterschiedlichster Art.“

Der Verkehrsexperte des Fahrradclubs stellt klar: „Wer ein so schweres Fahrzeug wie einen Lkw lenkt, muss sich seiner immensen Verantwortung in jeder Sekunde bewusst sein.“ Diese erhöhte Sorgfaltspflicht und das Gebot besonderer Vor- und Rücksichtsnahme nach Paragraph 1 der Straßenverkehrs-Ordung hatte der Lkw-Fahrer aber eklatant missachtet. Wenn Medienberichte zu dem Unfall die Verantwortlichkeiten von LKW-Fahrer und Radfahrerin tendenziell auf eine Stufe stellen, werde das dem jeweiligen Gefährdungspotenzial der beiden unterschiedlichen Verkehrsteilnehmer*innen nicht gerecht. „Während Radfahrende bei einem Fahrfehler primär sich selbst gefährden, gefährdet ein LKW-Fahrender primär alle anderen Verkehrsteilnehmenden – und das mit oft tödlichen Folgen“.

Der Lkw-Fahrer gab selbst vor Gericht an, nicht mit der vorgeschriebenen Schrittgeschwindigkeit von 5 bis 7 km/h, sondern mit einer Geschwindigkeit von 18 km/h in die Osakaallee abgebogen zu sein – angeblich, weil er mit seinem Lkw gar nicht langsamer fahren könne. „Aus dem Stand heraus von der Ampel auf 18 km/h, das muss ein sogenannter Kavalierstart gewesen sein“, kritisiert Pruin. „Wer es nicht schafft, sich an die Vorschriften zu halten und mit Schrittgeschwindigkeit abzubiegen, ist zum Fahren eines Lkw ungeeignet und muss seinen Führerschein abgeben.“

Radfahrende müssten, erklärte die Sachverständige vor Gericht, beim rechten Vorbeifahren an sich stauenden Fahrzeugen vor einer Ampel auf einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu diesen achten. Die getötete Radfahrerin befuhr aber einen sogenannten Schutzstreifen auf der Magdeburger Brücke in der Hafencity. Sie musste davon ausgehen, dort grundsätzlich fahren und sich dabei auch sicher fühlen zu dürfen. Der von der Sachverständigen genannte vorgeschriebene Abstand von einem Meter zu den links von ihr sich stauenden Fahrzeugen lässt sich für solche Wege nicht aus der StVO herleiten. Der Sinn solcher Radfahr- und Schutzstreifen ist vielmehr, eine möglichst fahrbahnnahe Führung explizit für Radfahrende zu ermöglichen. Pruin: „Welchen Sinn sollte diese Form der Radverkehrsführung sonst haben? Die Sachverständige hat hier offenbar nicht die tatsächliche Verkehrsführung vor Ort berücksichtigt und daraus falsche Schlüsse gezogen.“

Aber nicht nur der Lkw-Fahrer hat einen für die Radfahrerin tödlichen Fehler gemacht, auch die Behörden haben versagt. Denn bereits vor dem Unfall im Januar 2023 gab es mehrere Meldungen aus der Bevölkerung an die zuständige Polizeidienststelle, wonach die Kreuzung in der Hafencity insbesondere für Radfahrende gefährlich sei. Die Polizei weigerte sich jedoch trotz dieser Warnungen, Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation zu entschärfen, weil sie bis dahin selbst keine Gefahrenlage oder Gefährdungen von Radfahrern erkennen wollte. Pruin: „Es ist immer das gleiche Muster: Solange niemand ums Leben gekommen ist, wiegelt die Polizei ab und erklärt die Gefahr mit Verweis auf ihre Unfallstatistik für unbedeutend. Erst wenn jemand stirbt, sind Polizei und Innenbehörde betroffen und behaupten, dass sie das nicht vorhersehen hätten können.“ Aber bis heute, fast zwei Jahre nach dem tödlichen Unfall, haben die Verantwortlichen nichts für die Verkehrssicherheit an der Kreuzung in der Hafencity unternommen, nicht einmal eine Roteinfärbung des Radfahrstreifens oder getrennte Ampelschaltungen für die unterschiedlichen Verkehrsarten, geschweige denn andere Forderungen, die der Fahrradclub als Sofortmaßnahmen nach dem Unfall zur Erhöhung der Verkehrssicherheit von Radfahrenden an der Stelle im Januar 2023 vorschlug. „Das Nichtstun der Polizei und der Innenbehörde ist der eigentliche Skandal“, sagt Pruin und warnt: „Wenn erst das neue Einkaufszentrum in unmittelbarer Nähe eröffnet und noch mehr Autoverkehr erzeugt, erhöht sich die Gefahrenlage für nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmende dort noch einmal dramatisch.“

Forderung nach fehlerverzeihender Infrastruktur

Unfälle wie der vom Januar 2023 ließen sich vermeiden, sagt Pruin, indem eine Infrastruktur gebaut wird, die individuelles Fehlverhalten wie das des Lkw-Fahrers „verzeiht“ und für alle Menschen Sicherheit bietet – etwa durch angepasste Kurvenradien und baulich getrennte Verkehrswege. „Aber sowohl Hamburgs Verkehrsbehörde als auch die für Verkehrssicherheit zuständige Behörde für Inneres und Sport legen die Möglichkeiten der Straßenverkehrs-Ordnung häufig möglichst konservativ aus und geben der ,Leichtigkeit‘ des motorisierten Verkehrs immer wieder Vorrang vor anderen Aspekten wie zum Beispiel der objektiven und subjektiven Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmenden“.

Die Streckenführung im Bereich der Magdeburger Brücke ist für diese Politik ein trauriges Beispiel: Bereits ohne Baustelle ist sie für den Radverkehr weder subjektiv noch objektiv sicher. „Schutzstreifen und Fahrbahn sind dort so schmal gebaut, dass Autofahrende Radfahrende nicht überholen dürfen, weil sie den dabei gesetzlich vorgeschriebenen Mindestabstand von 1,50 Meter nicht einhalten können – gerade im Bereich der Kreuzung werden die unterschiedlichen Verkehrsarten viel zu eng geführt.“ Aus genau diesen Gründen ordnete die Polizei in Altona zuletzt den Schutzstreifen in der Elbchaussee weg. Weitaus sicherer wäre auch in der Hafencity der Bau eines Radfahrstreifens in ausreichender Breite und der Verzicht auf eine zweispurige Führung des motorisierten Verkehrs.
„Jede*r getötete Radfahrer*in ist genau eine*r zu viel, das Versagen von Lkw-Fahrer und Behörden hat unermessliches menschliches Leid zur Folge“, sagt Pruin. „Politik und Polizei sind es der getöteten Radfahrerin und ihren Angehörigen schuldig, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, weitere Unfälle dieser Art zu verhindern.“ Das Gegenteil ist leider der Fall: Allein seit Januar 2023 sind weitere 18 Radfahrende auf Hamburgs Straßen getötet worden. „Politik und Behörden dürfen nicht länger tatenlos dabei zu sehen, wie Radfahrende und Fußgänger*innen im Straßenverkehr getötet werden“, appelliert Pruin an den Senat, sein Ziel der Vision Zero, also von Null Toten und Schwerverletzten im Straßenverkehr, endlich ernst zu nehmen.

Pressemitteilung ADFC Hamburg

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