Am 28. Januar 2022 jährt sich der Todestag des Nobelpreisträgers Paul J. Crutzen (1933–2021) zum ersten Mal. Er gilt als Namensgeber des Begriffs Anthropozän, einer Epoche, in der sich der Mensch aufgemacht hat, die Erde nach seinen Bedürfnissen zu nutzen, ohne die Grenzen ihrer Tragfähigkeit zu beachten. Doch so richtig diese Diagnose auch ist: um Begriff und Narrativ des »Anthropozän« hat sich eine kontrovers geführte Debatte entwickelt.
In »Mut zum Gaiazän. Das Anthropozän hat versagt«, das am 3. Februar 2022 im oekom verlag erscheint, meldet sich der Kulturkritiker und Wissenschaftsforscher Peter L. W. Finke zu Wort und fordert sein schnelles Ende. Im aktuellen Band der politischen ökologie, »Menschengemacht«, unternehmen weitere Autor*innen aufschlussreiche Streifzüge durch das Anthropozän.
Crutzen hat recht, wenn er die unbescheidene Jetztzeit als ein neues Zeitalter bezeichnet, doch er hat die bequeme Mutlosigkeit der anthropozentrischen Wissenskultur unterschätzt, sagt Peter Finke: »Das Anthropozän hat sich zu einer arroganten Ideologie entwickelt, statt an Götter glauben wir heute an den Markt und an uns selbst!« Im Zentrum seiner Kritik steht unser verantwortungsfreies, in viele Teile zerlegtes Wissen sowie eine männerdominierte, technologiehörige und fortschrittstrunkene Wissenschaft – sie wieder zu einer Hoffnungsträgerin zu machen, lautet das Gebot der Stunde. Dazu muss sie sich gründlich erneuern, indem sie u.a. den Sinn der Vielfalt wiederentdeckt, die Kraft der Frauen nutzt, die kritische Kreativität der Zivilgesellschaft begrüßt und die Würde und Rationalität der durch uns gedemütigten indigenen Kulturen anerkennt.
In »Mut zum Gaiazän« fordert Peter Finke, über Sprache, Logik, Wissen, Handeln, Macht, Rationalität und Realität neu nachzudenken und lotet diesen Weg in Richtung eines bescheideneren Gaiazän aus. Es wäre das bessere Menschenzeitalter, auch für unsere Mitlebewesen.
Die Erdwirklichkeit macht Angst, denn sie ist vielfaltsfeindlich, zukunftsunfähig und fortschrittstrunken. Wir haben uns in eine Ideologie verrannt: das Anthropozän. Statt an Götter glauben wir heute an uns selbst, an unser überschätztes Bruchstückwissen. Viele Fortschritte, auf die wir so stolz sind, tragen Kennzeichen von Wirklichkeitsverlusten. Sie zeigen sich in eingebildeter Exaktheit, übersehenen Zusammenhängen, dem Digitalisierungshype, Technologiegläubigkeit und vielen anderen Irrtümern.
Unsere verantwortungslose Wissenskultur hat das Anthropozän erst ermöglicht. Im Gaiazän kann Wissenschaft wieder zur Hoffnungsträgerin werden, indem sie einen neuen Sinn für Vielfalt entwickelt, die Kraft der Frauen nutzt, die kritische Kreativität der Zivilgesellschaft begrüßt und die Würde und die Rationalität der indigenen Kulturen anerkennt.
Ein bescheideneres, ausgleichendes Gaiazän ist das erstrebenswertere Menschenzeitalter.
Peter Finke, »Mut zum Gaiazän. Das Anthropozän hat versagt«. Mit einem Vorwort von Ernst Ulrich von Weizsäcker. 192 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-96238-366-4, Print 20 €, PDF 15,99 €
Wie steht es also um das Anthropozän? Dieser Frage spürt die neue Ausgabe der politischen ökologie, »Menschengemacht«, nach. Unbestritten ist, dass wir die Natur rücksichtslos nach unseren Bedürfnissen nutzen und formen. Noch ist aber unklar, ob es zur offiziellen Ausrufung eines Erdzeitalters des Menschen kommt. Denn das Narrativ hat verschiedene Nuancen, über die sich trefflich streiten lässt. Dennoch hat der schillernde Begriff längst Einzug in umweltpolitische Debatten gehalten und zeigt: Wir müssen das Überleben politisieren und lernen, mit selbst produzierten Bedrohungslagen umzugehen.
politische ökologie, »Menschengemacht«, Ausgabe 04-2021, Print 18,95 € / 19,50 € (A), PDF 14,99 €. Mit Beiträgen von Barbara Unmüßig, Frank Uekötter, Reinhold Leinfelder, Katharina van Bronswijk, Michael Müller uvm.
Der Autor
Peter L. W. Finke war u.a. 25 Jahre lang Professor für Wissenschaftstheorie an der Universität Bielefeld. Er ist einer der deutlichsten Kritiker der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie, -praxis und -politik. »Mut«, sagt er, »ist dort eine leider wenig beachtete Kategorie.« Mit seinem kritischen Ansatz und seiner Werbung für Zivil-courage hat er sich in mehreren Gebieten einen Namen gemacht, von der Sprach- und Kulturtheorie, der Wissen-schaftsphilosophie bis hin zur ökologischen Ökonomie
und zum Naturschutz.
politische ökologie – die Zeitschrift für Weiterdenker*innen: Wer in der gesellschaftlichen Debatte über Nachhaltigkeit mitreden will, kommt um diese Zeitschrift nicht herum: Seit über 30 Jahren greift die politische ökologie aktuelle Debatten auf und zeigt die Folgen politischen und wirtschaftlichen Handelns für Mensch und Umwelt.
Pressemitteilung Oekom Verlag, München