Die Diskussion über das Hamburger Wahlrecht scheint das Lieblingsthema der Wahlverlierer zu sein. Sie treibt merkwürdige Blüten.
Die CDU sorgt sich um die Wahlbeteiligung in den Stadtteilen, in denen sie besonders schlecht abschnitt. Außer in Sonntagsreden fragen Parteistrategen intern doch immer, ob eine geringe Wahlbeteiligung ihnen nützt oder schadet. Die Selbstlosigkeit der CDU zum eigenen Nachteil ist hier etwas überraschend.
Und die CDU klagt, sie hätte ihre Fachleute nicht ins Parlament bekommen.
Aber das liegt doch an ihrem schlechten Wahlergebnis und an der Fehleinschätzung eines sicheren Platzes auf der Landesliste. Bei Parteien, die etwa 15% der Stimmen erhalten, wird der größte Teil der Abgeordneten aus den Wahlkreisen kommen. Das war vorher bekannt. Die Grünen kennen das Problem.
Zu klagen, das neue Wahlrecht sei dafür verantwortlich, dass die „Falschen“ gewählt werden, ist schon skurril. Es beleidigt die Kandidaten, die gewählt wurden. Es beleidigt die Parteimitglieder und Parteidelegierte, die sie aufgestellt haben. Und es beleidigt die Bürgerinnen und Bürger, die sie gewählt haben. Schlimmer geht’s nicht.
Das Wahlrecht wurde schon vor der Wahl schlecht geredet, obwohl (oder damit?) dadurch die Wahlbeteiligung geringer ausfallen könnte. Wer ohnehin keine große Lust hatte zur Wahl zu gehen, bekam damit die perfekte Ausrede geliefert. Trotzdem ist das Desaster nicht eingetreten. Es hätte sogar einen geringfügigen Anstieg gegeben, wenn die 16- bis 18-jährigen nicht so wenig gewählt hätten. Die Absenkung des Wahlalters war in dieser Hinsicht also kein Erfolg.
Der Ausgang der Wahl war vorher klar. Auch das führt erfahrungsgemäß zu einer geringeren Wahlbeteiligung. Dass dies nicht eingetreten ist, könnte das neue Wahlrecht bewirkt haben.
Das Wahlrecht sei zu kompliziert, besonders für Menschen mit geringer Bildung. Dümmer geht es kaum. Diesen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu unterstellen, sie könnten nicht bis 5 zählen, ist schlicht beleidigend. Sie bedienen Smartphones nicht schlechter als andere. Sie müssen sich häufig mit umfangreichen und schwer verständlichen amtlichen Formularen auseinandersetzen, bei denen selbst die Nutzerhinweise wenig zur Erklärung beitragen. Das Landeswahlamt hingegen hat bei dieser Wahl jeden Schritt erfreulich klar erläutert. Und da soll es zu kompliziert sein, zweimal fünf Kreuze zu machen?
In den Wahlkreisen gebe es oft zu wenig Mitglieder und nicht genügend Kandidaten, wird geklagt.
Das ist doch nur ein Problem, wenn man unter sich bleiben will und nicht wirklich aktiv um neue Mitglieder wirbt. Dabei hilft es auch Kandidaten aufzustellen, die noch nicht in der Partei sind. Nur wer Angst vor solcher Konkurrenz hat, der stellt sich quer. Offene attraktive Parteien mit guten Kandidaten profitieren vom neuen Wahlrecht. Diese Öffnung der Parteien und die Verbesserung ihres Ansehens war wesentlicher Grund für die Wahlrechtsreform. Aber bisher mauern die Machteliten in den Parteien. Die sogenannten Fairnessklauseln der Parteien für ihre Kandidaten machen das besonders deutlich. Was ist fair daran, wenn Parteispitzen allen Kandidaten auf hinteren Listenplätzen faktisch untersagen, für sich zu werben?
Wer überzeugende Kandidaten hat, profitiert vom neuen Wahlrecht. So soll es sein und so war es. Die SPD hatte die absolute mehrheit bei der vorletzten Bürgerschaftswahl dem neuen Wahlrecht zu verdanken, auch ihr gutes Abschneiden bei der letzten Wahl: sechs Parteien im Parlament und fast die absolute Mehrheit. Das hätte wohl kaum ein Wahlrechtsforscher vorhergesagt. Die Erklärung ist einfach: Olaf Scholz kommt auch bei konservativen Wählern gut an. Von ihren fünf Stimmen für die Landesliste geben sie dann schon mal zwei oder drei Stimmen Herrn Scholz statt der CDU.
Und da wird behauptet, das neue zu komplizierte Wahlrecht fördere die soziale Spaltung.
In München, 1.4 Mill. Einwohner, wird seit der Nachkriegszeit mit einem sehr viel komplizierteren Wahlrecht gewählt. Achtzig Stimmen können vergeben werden, wobei auch kumuliert und panaschiert wird. Die soziale Spaltung ist wesentlich geringer als in Hamburg, wo in der Vergangenheit nur eine Stimme an eine Partei vergeben werden konnte. Nicht einmal Wahlkreise gab es.
Vor der Wahlrechtsreform wohnte der ganz überwiegende Teil der Bürgerschaftsabgeordneten in den bevorzugten Stadtteilen. Zumindest das hat sich schon geändert, denn auch das war eine Form der sozialen Spaltung.
Die Analyse der Wahl von 2011 durch Prof. Dr. Cord Jacobeit vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg macht deutlich: Das neue Wahlrecht ist bei den Wählern angekommen. Offensichtlich trifft das nicht auf die Machtstrategen in den Parteien zu.
Das neue Wahlrecht bietet stärker als andere Instrumente Chancen, die soziale Spaltung der Stadt zu mindern. Dazu müssen die Parteien allerdings bevorzugt engagierte Kandidaten aus den bildungsschwächeren Stadteilen insbesondere in den Wahlkreisen aufstellen: Sie, er, ist eine, einer von uns; sie kennen die Probleme vor Ort.
Das schafft Vertrauen und Akzeptanz.
In diesem Sinne sollte das neue Wahlrecht genutzt und nicht aus parteiinternem Machtkalkül lamentiert werden.
Pressemitteilung Mehr Demokratie e.V.